Gefangen
Er hatte auf hartem Boden geschlafen.
Das war er nicht gewohnt, nein, ganz und gar nicht. Er konnte sich
auch nicht daran erinnern, nicht in seinem Bett eingeschlafen zu
sein. Doch als er die Augen aufmachte, fühlte er sich anders. Nicht
mehr wie sonst. Als hätte sich etwas geändert, ohne dass er die
geringste Ahnung davon hatte. Es stank schrecklich. Er kannte diesen
Geruch, doch nie hatte er ihn so intensiv empfunden wie jetzt. Hatte
er hier schon die ganze Nacht gelegen? Hatte er etwa etwas getrunken?
Doch soweit er sich erinnerte, hatte er keinen Tropfen zu sich
genommen. Er konnte sich nicht aufrichten. Gerade so schaffte er es,
seine Augen einen Spalt breit zu öffnen, doch bevor er ein Stück
der Dunkelheit erfassen konnte, waren sie ihm schon wieder
zugefallen. Der Lärm drang an seine Ohren. Er kannte diesen Lärm.
Doch nie hatte er ihn so laut und deutlich wahrgenommen, wie er es
jetzt tat. Sein Kopf dröhnte. Oder hatte er überhaupt noch einen
Kopf? Er spürte seine Beine nicht mehr. Es fühlte sich an, als
hätte er keine Arme mehr. Sein Körper fühlte sich nicht wie sonst
an. Er fühlte sich nicht einmal wie ein Körper an. Da kam ihm ein
Gedanke, und sofort schloss er alle anderen Möglichkeiten aus: Er
musste träumen.
Kurz gesagt: Die Luft roch widerwärtig.
Er kannte den Gestank. Für gewöhnlich hielt er es keine halbe
Stunde in diesen Orten aus. Was also brachte ihn dazu, hiervon zu
träumen. Schnell entschied er sich, unbedingt aufwachen zu wollen,
bevor das Ganze in einen Albtraum ausartete. Langsam und schläfrig
öffnete er die Augen. Doch das Gefühl verschwand nicht. Er hatte
kaum Platz, wusste jedoch nicht wieso. Da war dieser Schmerz, den er
nicht kannte. Auf diesem harten Boden zu liegen und er fühlte sich,
als wäre er schon unzählige Male getreten worden. Vielleicht war
das auch so. Als er sich umdrehte, fühlte er, dass etwas mit ihm
nicht stimmte. Er konnte seine Arme nicht bewegen. Er konnte nicht
gehen. Sein Gehirn registrierte die Situation nicht. Nicht der
geringste Schimmer Licht drang durch den Ort. Er kannte diese
Dunkelheit. Doch nie hatte er mehr gespürt, wie sehr die Helligkeit
fehlte, wie er es jetzt tat. Er fühlte sich so schwer, als wäre er
seit Jahren nicht aufgestanden. Das war neu für ihn. Über ihn war
ein Gesicht gebeugt, es war ihm vertraut, er kannte es. Später würde
er herausfinden, dass eben dieses Gesicht, das sich über ihn beugte,
beinahe sein Ebenbild war. Er würde nie wieder in einen Spiegel
sehen, aber er würde wissen, was geschehen war. Schon jetzt hätte
er es ahnen können, wäre er nicht von der Unmöglichkeit der
Situation überzeugt gewesen. Er würde sich fragen, wo die Sonne
war. Wohin sie verschwunden war. Er würde sie nicht mehr oft zu
Gesicht bekommen. Nur ein einziges Mal noch, um genau zu sein. Er
wusste nicht, was alles auf ihn zu kommen würde.
Plötzlich waren seine Arme so kurz,
seine Beine ebenso, er konnte sich kaum aufrichten. Dann drehte er
sich um und es brauchte eine Weile, bis er wieder stand. Er
blinzelte. Es war ungewohnt. Es war neu. Er würde sich nie daran
gewöhnen, doch er ahnte auch nicht, dass es für immer sein würde.
Er ahnte noch nicht, was auf ihn zu kam. Er hielt es für einen
Albtraum. Natürlich tat er das. Er hielt es für einen
fürchterlichen, schrecklichen Albtraum. Und doch war es das nicht.
Für ihn war es die bittere Realität, wie er zu lernen hatte. Neben
ihm waren sie, überall. Sie standen so dicht an ihm, dass es ihm
unangenehm war. Dass er fliehen wollte, obwohl er dazu nicht die
geringste Möglichkeit hatte. Für keinen von ihnen gab es Flucht. Er
drehte seinen Kopf, erst hin und dann wieder zurück. Erst jetzt
begriff er. Erst jetzt schlich sich eine Ahnung in seinen Kopf.
Allmählich begann er zu verstehen. Und nun versuchte er zu schreien,
um Hilfe zu rufen, doch nicht ein Wort kam über seine Lippen. Nie
wieder würde er ein Wort sagen. Er schaffte es nur zu quieken, so
wie es alle um ihn herum taten. Er spürt etwas Hartes, das ihn
tritt. Erbost wollte er sich umdrehen, doch er sah nur mehr von
ihnen. Sie hatten ihn umzingelt. Dies war ein Albtraum, wie er ihn
sich nie vorgestellt hatte. Und es gab keinen Weg zu entkommen.
Ihr Husten quälte ihn Tag und Nacht.
Er hörte es manchmal sogar in seinen Träumen, sogar in den Schönen,
in denen er wieder er selbst war. Es war schlimmer als das schlimmste
Gefängnis, das er sich vorstellen konnte. Er sah das Sonnenlicht
wochenlang nicht. Nicht eine Sekunde. Die meisten von ihnen hatten es
nie gesehen. Die ewige Dunkelheit herrschte über sie. Er hatte keine
Privatsphäre mehr. Sie traten sich gegenseitig auf die Füße und
waren gequält von der Langeweile. Die anderen bissen sich, er
erkannte schon bald, welche von ihnen agressiver waren als die
anderen, diese mied er. Er konnte schon bald die Sanftmütigen von
den Wütenden unterscheiden. Er wusste, welche von ihnen krank waren.
Es waren viele. Er hatte beschlossen, ihnen Namen zu geben. Dem
einen, der am lautesten und ununterbrochen hustete, hatte er den
Namen Dan gegeben. Er hatte jemanden namens Dan gekannt, der eine
laute Stimme hatte. Er fühlte sich mehr zu Hause. Man hatte ihn von
seiner Familie getrennt, doch er würde sie nie wieder sehen. An
seinem ersten Tag war jemand hier gewesen, den er kannte. Verzweifelt
wie er war, wollte er ihn rufen. Er wollte klagen, seine Schmerzen
schreien. Er wollte, dass man ihn aus dieser Hölle befreite. Doch –
wie sollte es auch anders gewesen sein – keine Stimme verließ ihn,
kein Wort konnte er sagen. Er hätte nie geahnt, dass jeder von ihnen
einen Charakter hatte. Dass sie nicht nur Nummern waren. Aber wie
sehr hätte es schon damals wehgetan, hätten sie Namen gehabt.
Bald darauf ergriff auch ihn die
Krankheit. Der Husten plagte ihn und er wollte nach einem Doktor
schreien, doch nie kam ein Arzt, und das wusste er. Nie würde er
seine Krankheit loswerden. Er hatte seine Stimme verloren. Nicht nur
das, er verlor seine Rechte. Eines Morgens, als er an diesem Ort
erwachte, da hatte er begriffen. Da hatte er es verstanden. Dies war
der Morgen, an dem die Hoffnung aufhörte zu existieren und er
aufhörte zu versuchen zu schreien. Dies war der Morgen, an dem er
begann zu bereuen. Erst nun wurde ihm bewusst, was er getan hatte.
Wie schwer seine Verbrechen waren. Wie schrecklich er gewesen war.
Dies war der Morgen, an dem ihm bewusst wurde, dass er es verdient
hatte. Jede Sekunde. Er war ein Mörder, das wusste er nun, und er
hätte niemals morden dürfen. Dies war auch der Morgen, an dem er
sein Schicksal erkannte. Er wusste, was geschehen würde. Es war auch
der Morgen, an dem Dan ging. Er verschwand einfach und tauchte nie
wieder auf. Jeder von ihnen wusste es. Sie hatten viele gehen sehen.
Doch er wusste es am Besten. Er hätte ihnen viel darüber erzählen
können, was er wusste, und sie hätten Angst bekommen. Sie hätten
sich vor ihm gefürchtet.
An jenem Morgen fand er sich auch damit
ab, dass er nicht mehr am Leben war, denn das, was es war, war kein
Leben mehr. Er war viel damit beschäftigt zu essen, was man ihm gab.
Ihm blieb keine Wahl. In der erdrückenden Einsamkeit, wenn man davon
sprechen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig. Auch er hatte eine
Familie gehabt. Er ahnte, dass er sie niemals wiedersehen würde, und
so war es auch. Er vermisste sie. Er bereute. Doch niemand wollte ihm
Gnade schenken. Vermutlich hatte er keine Gnade verdient. Ihnen
erwies auch niemand Gnade. Das wusste er.
Tag für Tag blieb er am Leben. Er war
alleingelassen mit seinen Gedanken. Er war gezwungen zu fressen. Er
war gezwungen, den Schmerz zu ertragen. Und genau wie sie konnte er
nicht klagen, genau wie sie konnte er nicht schreien. Genau wie sie
konnte er nicht betteln und sie anflehen, die sie gefangen hielten.
Dies war der Schmerz, den er fühlte. Dies war der Schmerz, den er
verdient hatte, denn er war schuld, dass auch die anderen ihn
spürten. Das ganze Leid lag in diesem Ort. Der ganze Kummer. Er
wusste, dass dies sein Schicksal war. Hierzu war er verdammt, das war
seine Strafe und er konnte nichts dagegen tun. Und er war noch der
Glücklichste von ihnen. Er wusste wie die Sonne aussah. Er war so
lange frei gewesen, während sie hier geboren waren. Während sie
hier schon ihr Leben lang leiden mussten. So kam es dazu, dass er auf
den Tag zu warten begann, weil er die Schuld nicht mehr ertragen
konnte. Weil er den Schmerz, das Leid und den Kummer nicht mehr
aushielt. Seit jenem Tag, an dem er aufwachte auf dem harten Boden,
war gar nicht so viel Zeit vergangen. Es war nicht einmal ein Jahr,
als er eines Tages wieder erwachte und wusste, dass er lange überlebt
hatte und es Zeit war zu gehen.
Als er merkte, dass er kaum noch laufen
konnte, weil er so schwer war, wusste er, dass die Zeit gekommen war.
Aber nein, er war nicht traurig. Er wollte erlöst sein von den
Qualen und von der Schuld. Und vor allem: Er wollte frei sein. Nur
noch ein einziges Mal. Ein letztes Mal. Vielleicht hatte er
wenigstens das verdient. Sie kamen wirklich noch am selben Tag. Sie
holten ihn ab und er verabschiedete sich mit einem Röcheln von den
anderen. Diesen Teil kannte er. Er hatte ihn oft erlebt, auf der
anderen Seite. Er wusste, was auf ihn zukam und er spürte die Reue.
Ein letztes Mal spürte der Schlachter
die Sonne auf seiner Haut, bevor er in den Transporter stieg und
seinem Tod entgegen fuhr.