Freitag, 27. Juni 2014

Gefangen

Ich weiß, dass niemand diesen Blog ließt. Ich hatte aber trotzdem das Bedürfniss, hier eine Geschichte zu veröffentlichen, die ich geschrieben habe:

Gefangen

Er hatte auf hartem Boden geschlafen. Das war er nicht gewohnt, nein, ganz und gar nicht. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, nicht in seinem Bett eingeschlafen zu sein. Doch als er die Augen aufmachte, fühlte er sich anders. Nicht mehr wie sonst. Als hätte sich etwas geändert, ohne dass er die geringste Ahnung davon hatte. Es stank schrecklich. Er kannte diesen Geruch, doch nie hatte er ihn so intensiv empfunden wie jetzt. Hatte er hier schon die ganze Nacht gelegen? Hatte er etwa etwas getrunken? Doch soweit er sich erinnerte, hatte er keinen Tropfen zu sich genommen. Er konnte sich nicht aufrichten. Gerade so schaffte er es, seine Augen einen Spalt breit zu öffnen, doch bevor er ein Stück der Dunkelheit erfassen konnte, waren sie ihm schon wieder zugefallen. Der Lärm drang an seine Ohren. Er kannte diesen Lärm. Doch nie hatte er ihn so laut und deutlich wahrgenommen, wie er es jetzt tat. Sein Kopf dröhnte. Oder hatte er überhaupt noch einen Kopf? Er spürte seine Beine nicht mehr. Es fühlte sich an, als hätte er keine Arme mehr. Sein Körper fühlte sich nicht wie sonst an. Er fühlte sich nicht einmal wie ein Körper an. Da kam ihm ein Gedanke, und sofort schloss er alle anderen Möglichkeiten aus: Er musste träumen.
Kurz gesagt: Die Luft roch widerwärtig. Er kannte den Gestank. Für gewöhnlich hielt er es keine halbe Stunde in diesen Orten aus. Was also brachte ihn dazu, hiervon zu träumen. Schnell entschied er sich, unbedingt aufwachen zu wollen, bevor das Ganze in einen Albtraum ausartete. Langsam und schläfrig öffnete er die Augen. Doch das Gefühl verschwand nicht. Er hatte kaum Platz, wusste jedoch nicht wieso. Da war dieser Schmerz, den er nicht kannte. Auf diesem harten Boden zu liegen und er fühlte sich, als wäre er schon unzählige Male getreten worden. Vielleicht war das auch so. Als er sich umdrehte, fühlte er, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er konnte seine Arme nicht bewegen. Er konnte nicht gehen. Sein Gehirn registrierte die Situation nicht. Nicht der geringste Schimmer Licht drang durch den Ort. Er kannte diese Dunkelheit. Doch nie hatte er mehr gespürt, wie sehr die Helligkeit fehlte, wie er es jetzt tat. Er fühlte sich so schwer, als wäre er seit Jahren nicht aufgestanden. Das war neu für ihn. Über ihn war ein Gesicht gebeugt, es war ihm vertraut, er kannte es. Später würde er herausfinden, dass eben dieses Gesicht, das sich über ihn beugte, beinahe sein Ebenbild war. Er würde nie wieder in einen Spiegel sehen, aber er würde wissen, was geschehen war. Schon jetzt hätte er es ahnen können, wäre er nicht von der Unmöglichkeit der Situation überzeugt gewesen. Er würde sich fragen, wo die Sonne war. Wohin sie verschwunden war. Er würde sie nicht mehr oft zu Gesicht bekommen. Nur ein einziges Mal noch, um genau zu sein. Er wusste nicht, was alles auf ihn zu kommen würde.
Plötzlich waren seine Arme so kurz, seine Beine ebenso, er konnte sich kaum aufrichten. Dann drehte er sich um und es brauchte eine Weile, bis er wieder stand. Er blinzelte. Es war ungewohnt. Es war neu. Er würde sich nie daran gewöhnen, doch er ahnte auch nicht, dass es für immer sein würde. Er ahnte noch nicht, was auf ihn zu kam. Er hielt es für einen Albtraum. Natürlich tat er das. Er hielt es für einen fürchterlichen, schrecklichen Albtraum. Und doch war es das nicht. Für ihn war es die bittere Realität, wie er zu lernen hatte. Neben ihm waren sie, überall. Sie standen so dicht an ihm, dass es ihm unangenehm war. Dass er fliehen wollte, obwohl er dazu nicht die geringste Möglichkeit hatte. Für keinen von ihnen gab es Flucht. Er drehte seinen Kopf, erst hin und dann wieder zurück. Erst jetzt begriff er. Erst jetzt schlich sich eine Ahnung in seinen Kopf. Allmählich begann er zu verstehen. Und nun versuchte er zu schreien, um Hilfe zu rufen, doch nicht ein Wort kam über seine Lippen. Nie wieder würde er ein Wort sagen. Er schaffte es nur zu quieken, so wie es alle um ihn herum taten. Er spürt etwas Hartes, das ihn tritt. Erbost wollte er sich umdrehen, doch er sah nur mehr von ihnen. Sie hatten ihn umzingelt. Dies war ein Albtraum, wie er ihn sich nie vorgestellt hatte. Und es gab keinen Weg zu entkommen.
Ihr Husten quälte ihn Tag und Nacht. Er hörte es manchmal sogar in seinen Träumen, sogar in den Schönen, in denen er wieder er selbst war. Es war schlimmer als das schlimmste Gefängnis, das er sich vorstellen konnte. Er sah das Sonnenlicht wochenlang nicht. Nicht eine Sekunde. Die meisten von ihnen hatten es nie gesehen. Die ewige Dunkelheit herrschte über sie. Er hatte keine Privatsphäre mehr. Sie traten sich gegenseitig auf die Füße und waren gequält von der Langeweile. Die anderen bissen sich, er erkannte schon bald, welche von ihnen agressiver waren als die anderen, diese mied er. Er konnte schon bald die Sanftmütigen von den Wütenden unterscheiden. Er wusste, welche von ihnen krank waren. Es waren viele. Er hatte beschlossen, ihnen Namen zu geben. Dem einen, der am lautesten und ununterbrochen hustete, hatte er den Namen Dan gegeben. Er hatte jemanden namens Dan gekannt, der eine laute Stimme hatte. Er fühlte sich mehr zu Hause. Man hatte ihn von seiner Familie getrennt, doch er würde sie nie wieder sehen. An seinem ersten Tag war jemand hier gewesen, den er kannte. Verzweifelt wie er war, wollte er ihn rufen. Er wollte klagen, seine Schmerzen schreien. Er wollte, dass man ihn aus dieser Hölle befreite. Doch – wie sollte es auch anders gewesen sein – keine Stimme verließ ihn, kein Wort konnte er sagen. Er hätte nie geahnt, dass jeder von ihnen einen Charakter hatte. Dass sie nicht nur Nummern waren. Aber wie sehr hätte es schon damals wehgetan, hätten sie Namen gehabt.
Bald darauf ergriff auch ihn die Krankheit. Der Husten plagte ihn und er wollte nach einem Doktor schreien, doch nie kam ein Arzt, und das wusste er. Nie würde er seine Krankheit loswerden. Er hatte seine Stimme verloren. Nicht nur das, er verlor seine Rechte. Eines Morgens, als er an diesem Ort erwachte, da hatte er begriffen. Da hatte er es verstanden. Dies war der Morgen, an dem die Hoffnung aufhörte zu existieren und er aufhörte zu versuchen zu schreien. Dies war der Morgen, an dem er begann zu bereuen. Erst nun wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Wie schwer seine Verbrechen waren. Wie schrecklich er gewesen war. Dies war der Morgen, an dem ihm bewusst wurde, dass er es verdient hatte. Jede Sekunde. Er war ein Mörder, das wusste er nun, und er hätte niemals morden dürfen. Dies war auch der Morgen, an dem er sein Schicksal erkannte. Er wusste, was geschehen würde. Es war auch der Morgen, an dem Dan ging. Er verschwand einfach und tauchte nie wieder auf. Jeder von ihnen wusste es. Sie hatten viele gehen sehen. Doch er wusste es am Besten. Er hätte ihnen viel darüber erzählen können, was er wusste, und sie hätten Angst bekommen. Sie hätten sich vor ihm gefürchtet.
An jenem Morgen fand er sich auch damit ab, dass er nicht mehr am Leben war, denn das, was es war, war kein Leben mehr. Er war viel damit beschäftigt zu essen, was man ihm gab. Ihm blieb keine Wahl. In der erdrückenden Einsamkeit, wenn man davon sprechen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig. Auch er hatte eine Familie gehabt. Er ahnte, dass er sie niemals wiedersehen würde, und so war es auch. Er vermisste sie. Er bereute. Doch niemand wollte ihm Gnade schenken. Vermutlich hatte er keine Gnade verdient. Ihnen erwies auch niemand Gnade. Das wusste er.
Tag für Tag blieb er am Leben. Er war alleingelassen mit seinen Gedanken. Er war gezwungen zu fressen. Er war gezwungen, den Schmerz zu ertragen. Und genau wie sie konnte er nicht klagen, genau wie sie konnte er nicht schreien. Genau wie sie konnte er nicht betteln und sie anflehen, die sie gefangen hielten. Dies war der Schmerz, den er fühlte. Dies war der Schmerz, den er verdient hatte, denn er war schuld, dass auch die anderen ihn spürten. Das ganze Leid lag in diesem Ort. Der ganze Kummer. Er wusste, dass dies sein Schicksal war. Hierzu war er verdammt, das war seine Strafe und er konnte nichts dagegen tun. Und er war noch der Glücklichste von ihnen. Er wusste wie die Sonne aussah. Er war so lange frei gewesen, während sie hier geboren waren. Während sie hier schon ihr Leben lang leiden mussten. So kam es dazu, dass er auf den Tag zu warten begann, weil er die Schuld nicht mehr ertragen konnte. Weil er den Schmerz, das Leid und den Kummer nicht mehr aushielt. Seit jenem Tag, an dem er aufwachte auf dem harten Boden, war gar nicht so viel Zeit vergangen. Es war nicht einmal ein Jahr, als er eines Tages wieder erwachte und wusste, dass er lange überlebt hatte und es Zeit war zu gehen.
Als er merkte, dass er kaum noch laufen konnte, weil er so schwer war, wusste er, dass die Zeit gekommen war. Aber nein, er war nicht traurig. Er wollte erlöst sein von den Qualen und von der Schuld. Und vor allem: Er wollte frei sein. Nur noch ein einziges Mal. Ein letztes Mal. Vielleicht hatte er wenigstens das verdient. Sie kamen wirklich noch am selben Tag. Sie holten ihn ab und er verabschiedete sich mit einem Röcheln von den anderen. Diesen Teil kannte er. Er hatte ihn oft erlebt, auf der anderen Seite. Er wusste, was auf ihn zukam und er spürte die Reue.
Ein letztes Mal spürte der Schlachter die Sonne auf seiner Haut, bevor er in den Transporter stieg und seinem Tod entgegen fuhr.